„Solche abwertenden Rituale sind nicht mehr zeitgemäß“

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2. Dezember 2024
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Die Bamberger Ethnologin Heidrun Alzheimer über frauenfeindliche Bräuche – auch hier in Franken

Bamberg Heidrun Alzheimer, Europäische Ethnologin und ehemalige Lehrstuhlinhaberin an der Universität Bamberg, ist eine Expertin für Bräuche. Immer wieder hat sie zu diesem Thema geforscht. Seit einer Fernseh-Dokumentation ist die Empörung über den „Klaasohm-Brauch“ auf Borkum riesig. Denn bei der traditionellen Veranstaltung werden junge Frauen geschlagen, Betroffene berichten über blaue Flecken und weitere Verletzungen. Dabei ist „Klaasohm“ ein extremes Beispiel, auch durch die körperliche Gewalt. Es ist aber bei weitem nicht der einzige Brauch, bei dem Frauen gedemütigt werden. Auch in Franken gibt es Traditionen, die durchaus fragwürdig sind. Heidrun Alzheimer beobachtet solche Phänomene, und setzt sich auch mit der Frage auseinander, warum sich diese Bräuche noch halten und verteidigt werden. Ein Gespräch über internalisierte Frauenfeindlichkeit, Identität und Konservatismus gepaart mit patriarchalen Strukturen.

Das Schlagen von jungen Frauen beim traditionellen „Klaasohm“ auf Borkum hat nach einer Fernseh-Dokumentation hohe Wellen geschlagen. Wie kann es sein, dass sich ein solch frauenfeindlicher Brauch bis heute erhalten hat?

Heidrun Alzheimer: Die unreflektierte Übernahme von tradierten Brauchelementen ist häufig zu beobachten, auch wenn sie modernen ethischen Wertvorstellungen und Leitbildern wie Toleranz, Respekt und Wertschätzung jedes Individuums unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und so weiter diametral gegenüber stehen; es werden ja auch noch symbolisch Hexen verbrannt. Alles im Namen der Tradition. Dabei ist längst nicht alles gut, nur weil man es „schon immer“ so gemacht hat.

Nach der Protestwelle gegen den „Klaasohm-Brauch“ gab es eine Gegendemonstration vornehmlich alter Frauen, welche sich für die Beibehaltung des Brauchs aussprachen, inklusive des Schlagens junger Frauen. Wie erklären Sie sich das?

Heidrun Alzheimer: Beim Klaasohm-Brauch handelt es sich um ein Kulturmuster, das im 19. Jahrhundert entstanden ist, als man Angst vor Identitätsverlust hatte. Man hat versucht, damit die gesellschaftlichen Verhältnisse stabilisieren. Heute sehen sich Insulaner wie die Borkumer durch den Massentourismus, der sie zwar nährt, zugleich auch in ihrer Identität bedroht. Wenn die Touristen um diese Jahreszeit verschwunden sind, möchten die Einheimischen endlich einmal unter sich bleiben und sich ihrer Gemeinschaft durch das Feiern eingeübter Feste vergewissern.

„Ich fürchte, die hier praktizierte Enthemmung kann in Ausnahmefällen auch auf das Alltagshandeln abfärben.“ Expertin Heidrun Alzheimer

Auch in Franken gibt es seltsame Bräuche, beispielsweise das „Pfeffern von Mädchen“ im oberfränkischen Frankenwald, bei dem junge Männer von Haus zu Haus gehen und Mädchen in ihren Häusern mit Tannenzweigen „pfeffern“, was als symbolisches Schlagen gesehen wird. Oder bei der Kühlenfelser Kerwa in der Fränkischen Schweiz, dort werden Frauen eingefangen und dann rasiert, um ihnen symbolisch die Haare von den Zähnen zu rasieren. Wie bewerten Sie diese Traditionen?

Heidrun Alzheimer: Auch das sind fragwürdige Traditionen, die mit den 1948 verabschiedeten internationalen Menschenrechten unvereinbar sind. Wie auf Borkum scheint hier Nostalgie für Althergebrachtes eine Rolle zu spielen, aber die „Me-Too“-Bewegung hat uns sensibilisiert dafür, dass solche abwertenden Rituale nicht mehr zeitgemäß sind. Bei einer Bewerbung für den UNESCO-Titel „Immaterielles Kulturerbe“ wäre das ein Grund, den Antrag zurückzustellen, um Reflexionsprozesse innerhalb der Trägergemeinschaft anzustoßen.

Glauben Sie, dass frauenfeindliche Traditionen Gewalt gegen Frauen begünstigen?

Heidrun Alzheimer: Man sollte die Grenzerfahrungen, die mit Bräuchen vielfach verbunden sind, nicht überbewerten. Aber ich fürchte, die hier praktizierte Enthemmung kann in Ausnahmefällen auch auf das Alltagshandeln abfärben.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang sexistische Kerwa-Lieder, von denen es ja eine ganze Menge gibt?

Heidrun Alzheimer: Kirchweihlieder und Plantänze bilden erhaltenswerte, lebendige Traditionen. Sie tragen dazu bei, dass junge Leute sich für das gemeinsame Musizieren und das Erlernen auch ungewöhnlicher Instrumente wie die Bockpfeife, eine Art Dudelsack, oder die „Schäferpfeife“ begeistern. Solange die Texte der Kerwa-Lieder nicht unter die Gürtellinie gehen, dürfen sie ruhig auch einmal provozieren. Aber wenn sie rassistisch oder sexistisch daherkommen, ist eine rote Linie überschritten. Googeln Sie einmal „versaute Kärwalieder“ und machen Sie sich dann Ihr eigenes Bild.

Ist Fasching, das ja in vielen Teilen Frankens ausgiebig gefeiert wird, besonders sexistisch? Ich denke da beispielsweise an die Schmähung von Brigitte Macron durch die Altneihauser Feuerwehrkapell‘n bei der beliebten Fernsehsendung „Fastnacht in Franken“ als „gut abgehang’ne Dame“ oder „gut eingefahr’nen Schlitten.

Heidrun Alzheimer: Fasching ist eine zeitlich begrenzte Ausnahmezeit, die die üblichen Verhaltensregeln außer Kraft setzt. Das kann auch einmal zu einer unangemessenen Entgleisung führen wie die von Ihnen zitierte.

Ein solcher Beitrag geht vor der Fernsehausstrahlung durch die Hände von vielen Redakteurinnen und Redakteuren. Haben wir patriarchale Denkmuster so verinnerlicht, dass uns da auch eine Sensibilität dafür fehlt?

Heidrun Alzheimer: Die Öffentlichkeit hat sehr schnell mit Empörung reagiert. Aber dass die Verantwortlichen nicht rechtzeitig hellhörig geworden sind, mag tatsächlich damit zusammenhängen, dass sich ein Konservatismus mit patriarchalen Strukturen in den Köpfen festgesetzt hat. Der sexistische und altersdiskriminierende Vorfall bei der Fernseh-Prunksitzung „Fastnacht in Franken“ liegt schon wieder sechs Jahre zurück. Inzwischen lacht man nicht mehr ganz so unbekümmert über solche diffamierenden Klischees.

Inwiefern sehen Sie „Gender Ageism“, der sich ja in solchen Äußerungen zeigt, als Problem? Nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch im beruflichen Umfeld?

Heidrun Alzheimer: Mit einer zunehmend vielfältigen und generationenübergreifenden Belegschaft treten altersbedingte Vorurteile heute über den gesamten Karrierezyklus hinweg auf – insbesondere bei Frauen. Sogar Frauen mittleren Alters bekommen die Auswirkungen von Altersdiskriminierung schon zu spüren. Das löst Unzufriedenheit und geringeres Engagement bei ihnen aus. Hier müssen die Führungskräfte in den Unternehmen aktiv werden und ihren Mitarbeitenden vermitteln, dass nicht Alter oder Geschlecht entscheidend ist, sondern die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die jemand einbringt. Alt und Jung können viel voneinander lernen – im privaten Umfeld genauso wie am Arbeitsplatz.

Derzeit gibt es zwei neue Frauenbewegungen, ähnlich der bekannten #metoo-Bewegung. Unter dem Hashtag #womeninmalefields münzen Frauen sexistische Kommentare aus ihrer Lebenswirklichkeit um und zeigen damit, wie tief verwurzelt Sexismus in unserer heutigen Welt ist. Unter dem Stichwort saynotomisteltoe bekennen sich Personalabteilungen vor allem in Großbritannien dazu, keine Mistelzweige als aufzuhängen, um diese nicht als Ausrede für sexuelle Übergriffe nutzen zu können. Können solche Bewegungen etwas verändern?

Heidrun Alzheimer: Das kommt auf einen Versuch an. Ich kann mir vorstellen, dass diese Bewegung ähnlich wie in Borkum bei den Klaasohms zum Umdenken beiträgt.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit weniger Frauen in Zukunft Opfer von Gewalt oder sexuellen Übergriffen werden?

Heidrun Alzheimer: Geschlechtsspezifische Gewalt fängt bei Alltagssexismus an und endet mit Femiziden. Dagegen helfen nur Aufklärung, Gewaltprävention sowie umfassende Schutz- und Hilfsangebote.

Porträt Heidrun Alzheimer Heidrun Alzheimer ist Europäische Ethnologin. Sie hatte von 2006 bis Oktober 2024 den Lehrstuhl für Europäische Ethnologie an der Universität Bamberg inne. Schwerpunkte ihrer Forschungsarbeit sind unter anderem Brauch- und Erzählforschung, Religion und Spiritualität, Körper und Gesundheit, Nahrungsforschung und Frauen in der Volkskunde.

Das Interview führte: Karoline Keßler-Wirth
Pics: G.Meyer/Wikipedia Commons, Porträt: Alzheimer

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